Synästhesie: 5 Formen & 5 Tipps zum Umgang + Selbsttest
Synästhesie ist eine angeborene Eigenart, die eine Melodie nach Essen schmecken lassen oder einen ein Geruch mit Farben verbinden kann. Für Synästhetikerinnen und Synästhetiker gehören solche Sinnesverschmelzungen zum Alltag dazu.
Wir verraten dir alles, was du über die neurologische Besonderheit wissen musst.
Jeder zwanzigste Deutsche nimmt Zahlen, Buchstaben und Töne in verschiedenen Farben wahr. Darüber hinaus kann eine Synästhesie noch viele weitere Facetten haben, die sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich bringen.
Definition: Was Synästhesie ist
Das Wort Synästhesie leitet sich aus den altgriechischen Wörtern "syn" (zusammen) und "aisthesis"(Empfinden/Wahrnehmung) ab.
Synästhesie bedeutet, dass durch die Verknüpfung von verschiedenen Gehirnarealen bestimmte Wahrnehmungsphänomene auftreten können.
Synästhetikerinnen und Synästhetiker können also beispielsweise Töne fühlen oder Wörter schmecken. Synästhesie ist demnach eine Art Sinnesverschmelzung.
Synästhesie (englisch: synesthesia) zählt zu den rätselhaftesten Phänomenen der menschlichen Sinneswahrnehmungen. Sie ist keine Krankheit oder Wahrnehmungsstörung – Synästhetiker sind neurologisch und psychisch vollständig gesund.
Wie Synästhesie entsteht
Die Synästhesie entsteht nicht in den jeweiligen Sinnesorganen, sondern im Gehirn. Wie genau sie sich allerdings ausbildet, ist bislang nicht vollständig geklärt.
Bekannt ist, dass sich bei Synästhetikern unwillkürlich zwei oder noch mehr Hirnareale verknüpfen, die verschiedene Sinnesreize wie Hören, Riechen, Schmecken und Sehen verarbeiten.
Forscher gehen von circa 150 möglichen Kombinationen der Sinneseindrücke aus. Grundsätzlich ist das Gehirn eines Synästhetikers also anders verschaltet als das eines Nicht-Synästhetikers.
Forscher entdeckten auch, dass in den Gehirnen von Synästhetikern eine dichtere graue Substanz in bestimmten Arealen vorzufinden ist.
Erbbare Synästhesie
Da Synästhesie in Familien gehäuft vorkommt, geht man davon aus, dass die neurologische Besonderheit vererbbar ist.
Zudem berichten Synästhetiker von Sinnesverschmelzungen seit ihrer Geburt. Es ist also, dass Synästhesie angeboren ist.
In vielen Fällen ist ein Verwandter ersten Grades des Betroffenen auch Synästhetiker.
Trotz all der Hinweise sind die verantwortlichen Gene für das Auslösen der Synästhesie bislang noch nicht gefunden.
Wer Synästhetikerin/Synästhetiker ist
Etwa vier Prozent der Bevölkerung sind Synästhetiker und weisen mindestens eine der circa 150 Synästhesieformen auf. Da viele Menschen jedoch selbst nicht von ihrer synästhetischen Wahrnehmung wissen, könnte die Dunkelziffer weitaus höher sein.
In Deutschland leben circa 3,2 Millionen Menschen mit der neurologischen Besonderheit. Belegt ist, dass die meisten Menschen mit Synästhesie Frauen sind. Nur 10-20 Prozent der Synästhetiker sind Männer.
Feststellung von Synästhesie
Wenn Synästhetikerinnen und Synästhetiker Farben sehen während sie Musik hören, können Ärzte das mittels Gehirnscans sichtbar machen.
Die wichtigste Methode stellt dabei die funktionelle Magnetresonanztomographie (MRT) dar.
Mediziner weisen so nach, dass es sich bei Synästhesie nicht um Einbildung handelt, da MRTs die aktivierten Vernetzungen der Sinnesorgane sichtbar machen.
Ärzte können die Querverschaltungen im Gehirn jedoch auch mi Zuordnungstest feststellen. Die Versuchspersonen hören dabei verschieden hohe Töne, welche sie Farbtafeln zuordnen sollen
Während Nicht-Synästhetiker helle Töne mit hellen Farben verbinden, ordnen Synästhetiker die Töne nach ihren eigenen Gesetzen zu.
Rückentwicklung von Synästhesie
Einige Forscher gehen davon aus, dass jeder Mensch mit Synästhesie geboren ist. Jeder Fötus soll demnach die neuronalen Verbindungen aufweisen, die sich in der weiteren Entwicklung wieder zurückbilden.
Bei Synästhetikern passiert das jedoch nicht. Andere Wissenschaftler vermuten hingegen, dass vorhandene Synästhesien sich im beginnenden Schulalter entwickeln, also zwischen vier und sieben Jahren.
Die Stärke des neurologischen Phänomens nimmt mit dem Alter zu und bleibt dann konstant bis etwa zum 50. Lebensjahr. Danach könnte die Intensität wieder abnehmen. Aber eine bereits vorhandene Synästhesie kann nicht verschwinden und bleibt ein Leben lang.
Arten von Synästhesien
Synästhesie tritt in zahlreichen Varianten auf und kann individuell anders ausgeprägt sein. Der US-amerikanische Neurologe und Synästhesieforscher Richard Cytowic geht von circa 150 unterschiedlichen Arten der Synästhesie aus. Im Folgenden erfährst du alles über die häufigsten Synästhesieformen.
Graphem-Farb-Synästhesie
Bei der Graphem-Farb-Synästhesie verbindet der Betroffene Zahlen, Buchstaben oder geschriebene Symbole mit Farben. Sie tritt bei ein bis zwei Prozent der Bevölkerung auf.
Graphem-Farb-Synästhetiker können den Zahlen und Buchstaben auch charakteristische Eigenschaften zuordnen.
Die Zahl "3" wird dann etwa nicht nur mit der Farbe Grün assoziiert, sondern auch als fröhlich beschrieben.
Gefühls-Synästhesie
Bei der Gefühls-Synästhesie verbindet der Synästhet Gefühle mit Formen oder Farben. Gefühlssynästhetiker sind in der Lage, Bilder für innere Zustände zu finden. Jedoch wechselt die Assoziation je nach Gefühlslage.
Ticker-Tape-Synästhesie
Menschen mit Ticker-Tape-Synästhesie sehen gesprochene beziehungsweise gedachte Sprache automatisch als Abfolge von Worten – wie bei einem Newsticker. Die Ticker-Tape-Synästhesie kann man sich wie ein Untertitel auf einem inneren Monitor vorstellen, den Synästhetiker mitlesen.
Die Wörter können auch in verschiedenen Schriftarten und Farben erscheinen. Ticker-Tape-Synästhetiker zeigen oft sehr gute Leistungen im Buchstabieren oder konnten schon früh anfangen zu lesen.
Sequenz-Raum-Synästhesie
Bei der Sequenz-Raum-Synästhesie haben verschiedene Zeiteinheiten wie Tagesstunden, Monate oder Jahre bestimmte räumliche Anordnungen.
Das bedeutet, dass sich die Zeiteinheiten dreidimensional vor dem inneren Auge anordnen. Konzepte und Sequenzen sind somit visuell dargestellt.
Lexikalisch-gustatorische Synästhesie
Die Lexikalisch-gustatorische Synästhesie führt dazu, dass Menschen Klänge schmecken oder eine bestimmte Textur auf der Zunge spüren.
Beispielsweise schmecken Gitarrentöne für manche Synästhetiker nach Bratwurst oder Kuchen. Weniger als 0,2 Prozent der Weltbevölkerung verfügen über diese Form der Synästhesie.
Vorteile der Synästhesie
Synästhetiker erleben ihre spezielle Art der Wahrnehmung als eine Bereicherung in ihrem Leben. Eine Synästhesie kann nämlich einige Vorteile wie ein besseres Gedächtnis oder gesteigerte Kreativität mit sich bringen.
Besseres Gedächtnis
Je besser das Gehirn eines Synästhetikers vernetzt ist, desto besser ist auch das Langzeitgedächtnis. Forscher sind sich sicher, dass das gute Gedächtnis mit der reicheren Erlebniswelt eines Synästhetikers einhergeht.
Ticker-Tape-Synästhetiker, die Termine in einer räumlichen Struktur vor ihrem inneren Auge sehen, können sich nicht nur anstehende Termine gut merken, sondern können sich auch an frühere Ereignisse deutlich besser erinnern.
Hohe Kreativität
Oftmals üben Synästhetiker einen kreativen Beruf aus, in dem sie ihre Sinneswahrnehmungen manifestieren können.
Der Neurologe Vilayanur Ramachandran sagt, dass Synästhesie bei kreativen Menschen siebenmal so oft vorkommt, wie bei der Durchschnittsbevölkerung.
Gute Intuition
Gerade bei Gefühlssynästhetikern ist eine stärkere Intuition zu beobachten, da ihre Emotionen synästhetische Farben auslösen können.
Auch das verbesserte Bauchgefühl kann beim Treffen von Entscheidungen helfen. Weitere Vorteile sind:
- Hohes Energielevel
- Hohe sprachliche Fähigkeiten
- Intensive Konzentrationsfähigkeit
- Lange Ausdauer
- Geringer Übungsbedarf beim Erlernen neuer Fähigkeiten
Nachteile der Synästhesie
Die Verschmelzung von Sinneseindrücken hat nicht nur positive Seiten, sondern kann im Alltag manchmal auch belastend sein. Beispiele sind Reizüberflutung oder Probleme damit, die Aufmerksamkeit zu lenken.
Reizüberflutung
Durch die gleichzeitige Wahrnehmung mehrerer Sinneseindrücke kann eine Synästhesie Reizüberflutung auslösen. Beispielsweise können laute Geräusche Synästhetiker überfordern. So ist die laute Party oder der Actionfilm mit vielen Schießereien eine enormen Belastung.
Aufmerksamkeitsstörung
Starke synästhetische Eindrücke beeinflussen die Konzentration maßgeblich, sodass der Betroffene abgelenkt ist und Schwierigkeiten hat im Hier und Jetzt zu bleiben. Der Stress der durch die Hypersensibilität gegenüber Reizen entsteht, kann also schnell ablenken.
Aufklärungsbedarf
Viele Synästhetikerinnen und Synästhetiker berichten von einem Gefühl der Andersartigkeit, da einige Menschen sie als merkwürdig wahrnehmen.
So denken viele Synästhetiker aufgrund von schlechten Erfahrungen mit Mitmenschen, nicht in die Gesellschaft zu passen und nicht verstanden zu werden – trotz Anpassungsbemühungen.
Auch die Schwierigkeit verstanden zu werden, ergibt sich oft aus einer Fehleinschätzung der Mitmenschen.
Beispielsweise verfügen Synästhetiker über eine rasche Denkweise und Unlust auf Smalltalk. Der Gesprächspartner kann dies fälschlicherweise als Arroganz oder Desinteresse auffassen.
Das Gefühl der Andersartigkeit, das bei vielen Synästhetikern vor allem während der Schulzeit besteht, lässt sich meist in den späteren Jahren reduzieren. Beispiele sind ein passendes Berufs- und Lebensumfeld sowie der Kontakt zu ähnlichen Menschen.
Ebenfalls kann Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft dazu beitragen, dass Akzeptanz und Förderung von Synästhetikern erleichtert wird.
Tipps im Umgang mit Synästhesie
Menschen mit einer Synästhesie können verschiedene Aspekte beachten, um das Potential des Wahrnehmungsphänomens richtig auszuschöpfen und zu lernen, mit ihm umzugehen.
Das passende Lebens- und Arbeitsumfeld
Ob Routineaufgaben im Alltag oder die Arbeit in einem Bürojob – Synästhetiker sind schnell unterfordert.
Die Reizlosigkeit führt bei Betroffen oft zu Konzentrationsstörungen und Prokrastination.
Für Synästhetiker ist es daher wichtig, genügend intellektuell fordernde Aufgaben und viel Abwechslung in ihren Alltag einzubauen.
Die richtige Berufswahl spielt ebenfalls eine große Rolle, damit Kreativität und Fantasie zum Ausdruck kommen.
Da Synästhesien subjektiv und von Person zu Person unterschiedlich sind, kann man auch keine pauschale Empfehlung für den richtigen Beruf treffen.
Für den einen kann ein mathematischer Berufsweg die perfekte Wahl sein, für den anderen ist Musizieren genau das Richtige.
Selbstbewusstsein stärken
Die Förderung von Selbstbewusstsein und Selbstakzeptanz ist für Menschen mit Sinnesverschmelzungen elementar. Sich selbst zu akzeptieren bedeutet, alle Stärken und Schwächen, inklusive der Facetten einer Synästhesie, ohne Vorbehalte anzunehmen. Dabei kommt es nicht auf die Zustimmung anderer an.
Sich mit anderen zu vergleichen kann der Selbstakzeptanz im Wege stehen. Vor allem Synästhetiker sind oft mit Sinnkrisen konfrontiert, wenn sie sich an gesellschaftlichen Normen, anstatt an ihren eigenen Vorstellungen orientieren.
Hierbei ist es wichtig, für dich selbst zu hinterfragen, was dich glücklich macht und was Erfolg für dich bedeutet. Gleichwohl gilt es als Synästhetiker zu akzeptieren, dass nicht jeder Mensch die Synästhesie und ihre Auswirkungen versteht.
Mit anderen Synästhetiker sprechen
Den Kontakt zu ähnlichen Menschen aufzunehmen kann Synästhetikern ungemein helfen, um Erfahrungen und Erlebnisse auszutauschen.
Dies kann etwa über Online-Foren, Vereine oder soziale Medien passieren.
Der Austausch mit anderen Synästhetikern ermöglicht tiefgründigere Gespräche und vermeidet das Gefühl, sich ausgeschlossen zu fühlen, da uneingeschränktes Verständnis herrscht.
So können sich ganz neue Horizonte eröffnen.
Lernstrategien finden
Vor allem in der Schulzeit fühlt sich eine Vielzahl von hochbegabten Synästhetikern durch wenig komplexe Aufgabenstellungen unterfordert. Die daraus entstehende Langeweile führt wiederum zu Konzentrationsverlust und Flüchtigkeitsfehlern – der Schulbesuch entwickelt sich schnell zum Alptraum.
Das Aneignen von eigenen Lernstrategien kann in diesem Fall sehr nützlich sein, um eine niedrige Frustrationstoleranz zu kompensieren.
Ziel ist es, den Komplexitätsgrad von einfachen Aufgabenstellungen zu erhöhen. Dies kann beispielsweise durch ausgiebige Hintergrundrecherche, Zeitmanagement und die Aufteilung einer Aufgabe in Lernschritte erfolgen.
Überstimulation vermeiden
Es ist wichtig, dass Synästhetiker mit einer verstärkten Reaktionsbereitschaft auf Reize Maßnahmen ergreifen, um einer Reizüberflutung vorzubeugen. Eine überstimulierende Umgebung sollten Synästhetiker, wenn möglich, verlassen. Das Einplanen von Pausen, am besten schon bevor man sie braucht, kann ebenfalls guttun.
Wie sehr die Reize belasten, hängt auch von der geistigen und körperlichen Verfassung ab. Deswegen sollten hypersensitive Synästhetiker auf ausreichend Schlaf und gute psychische Konditionen achten.
Bekannte Synästhetiker
Synästhesie inspiriert auch prominente Persönlichkeiten, vorwiegend aus der künstlerischen Branche.
Der russische Maler Wassily Kandinsky ist bekannt für seine abstrakte Malerei und Bauhaus-Kunst. Seine Werke wurden inspiriert durch das Farbhören.
Die US-amerikanische Musikerin Lady Gaga ist ebenfalls von dem neurologischen Phänomen betroffen. Sie vergleicht das Schreiben von Liedern mit einer Wand voller Farben.
Auch der deutsche Komponist und Klaviervirtuose Franz Liszt assoziierte Töne mit Farben.
In einer Orchesterprobe soll er einst gesagt haben: "Das ist ein tiefes Violett, ich bitte Sie, sich danach zu richten! Nicht so rosa!"
Geschichte der Synästhesieforschung
Das Interesse am farbigen Hören geht bis in die griechische Antike zurück, aber der Begriff Synästhesie wurde erstmalig im Jahr 1866 von dem Neurophysiologen Alfred Vulpian benutzt.
Vulpian versuchte, die Empfindungen der Menschen mit Sinnesverschmelzungen mit einem Wort zu beschreiben. Seine Wortneuschöpfung (Neologismus) war der Anlass für die Erforschung des Phänomens.
Die Synästhesieforschung existiert seit dem 19. Jahrhundert und ist seitdem immer systematischer geworden. Der Psychophysiker Gustav Fechner berichtete 1871 über seine erste empirische Untersuchung über Farbbuchstabenphotismen bei circa 70 Synästhetikern.
Ab den 1980er Jahren begannen Wissenschaftler das Phänomen noch intensiver zu untersuchen und Aspekte wie die Realität, Häufigkeit und Konsistenz der synästhetischen Erlebnisse miteinzubeziehen.
Um die Erkenntnisse in der Wissenschaft wiederzugeben, haben sich Synästhesieforscher und Synästhetiker zusammengeschlossen. Daraus sind Gesellschaften entstanden, die über das neurologische Phänomen und dessen Folgen aufklären.
Synästhesie-Test
Hinweis: Zwischen einer echten Synästhesie und Assoziationen besteht ein großer Unterschied. Assoziationen sind kontrollier- und verstärkbar. Auch reagiert das Gehirn bei Assoziationen langsamer als bei echten Sinnesverschmelzungen.
- Nimmst du Farben wahr, wenn du Musik oder Geräusche hörst?
- Erzeugen Gerüche bei dir visuelle Wahrnehmungen?
- Siehst du das Wort "Mittwoch" in einer bestimmten Farbe?
- Empfindest du beim Schmecken auch Formen?
- Haben Zeiteinheiten vor deinem inneren Auge räumliche Anordnungen?
Wenn du eine dieser Fragen mit "Ja" beantwortet hast, bist du wahrscheinlich Synästhet. Bedenke, dass dieser Selbsttest keine "Diagnose" vom Arzt ersetzt.